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Pressemeldungen

Pflegerische Versorgung in Zeiten von Corona - Drohender Systemkollaps oder normaler Wahnsinn?

2. wissenschaftliche Studie zu Herausforderungen und Belastungen aus der Sichtweise von Leitungskräften

Mit Beginn der COVID-19-Pandemie im März 2020 standen Pflegeeinrichtungen im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Begleitet von Applaus für die Aufopferung im Umgang mit den Folgen der Pandemie und einer Corona-Prämie für Pflegekräfte, sah sich die ambulante und stationäre Langzeitpflege zu Beginn und im Verlauf der Pandemie einem drohenden Kollaps ausgesetzt, der die bereits existierenden Schwächen des pflegerischen Versorgungssystems verstärkt hat. Die COVID-19-Pandemie kann seit Ausbruch als eine Art Brennglas verstanden werden, das eine Vielzahl existierender struktureller Defizite offenlegte, die von neuen Herausforderungen und Belastungen in der Langzeitpflege überlagert wurde.  

Getragen durch umfassende Testkampagnen in Pflegeeinrichtungen und der Bewältigung der ersten Welle, die mit einer erheblichen Anzahl an und mit COVID-19 verstorbenen Pflegebedürftigen einherging, rückten zum Jahresende 2020 und dem Aufkommen der zweiten Pandemiewelle insbesondere wirtschaftliche Aspekte ins öffentliche und politische Bewusstsein. Zwar wurde der Pflege auch zu diesem Zeitpunkt in Deutschland weiterhin Beachtung geschenkt, erreichte aber nicht mehr das Niveau zu Beginn der Pandemie. Mit welchen Herausforderungen und Belastungen Pflegeeinrichtungen auch im Rahmen der zweiten Welle zu kämpfen hatten, blieb damit ein zunächst blinder Fleck.

Befragt wurden Leitungskräfte aus ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland sowohl zu Beginn der ersten Pandemiewelle im April 2020 wie auch im Verlauf der zweiten Pandemiewelle zwischen Dezember 2020 und Januar 2021.

Folgende Ergebnisse können hervorgehoben werden:

1. „Normaler Wahnsinn“ verschärft in Zeiten von Corona: Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sich das pflegerische Versorgungssystem in Deutschland zum Zeitpunkt der zweiten Befragungswelle weiterhin an der Belastungsgrenze befand. Sie zeigen zudem, dass im Verlauf der Corona-Pandemie die Herausforderungen und Belastungen sich zum Teil verschoben und verschärft haben.

2. Von der Beschaffung und dem Verbrauch von Schutzausrüstung zur Testung von Pflegebedürftigen und Mitarbeiter*innen: Bestand zu Beginn der Pandemie in der Beschaffung und dem Verbrauch von Schutzausrüstung noch eine zentrale Herausforderung und Belastung hat sich diese im Zuge der zweiten Befragungswelle hin zur Testung von Pflegebedürftigen und Pflegebediensteten verschoben. Der mit der Testung einhergehende Mehraufwand wurde weitestgehend durch das Pflegepersonal getragen, welches auch im Zuge der zweiten Befragung mit Personalmangel und -ausfällen zu kämpfen hatte.

3. Die Sorge um das Wohlbefinden der Pflegebedürftigen und Mitarbeiter*innen zählt weiterhin zu den größten Herausforderungen und Belastungen: Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden der Pflegebedürftigen und vor allem demenziell erkrankten Menschen bildet auch im Zuge der zweiten Befragung eine große Herausforderung und Belastung. Die Sorge um das Wohlbefinden der Pflegebedürftigen und Mitarbeiter*innen stellt daher im Verlauf der Pandemie eine zentrale Herausforderung und Belastung für Pflegeeinrichtungen.

4. Die anlaufende Impfkampagne zeigt eine erste Entlastung, geht aber auch mit Unsicherheiten einher: Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass die im Zuge der zweiten Befragung bereits anlaufende Impfkampagne von Pflegebedürftigen und Pflegebediensteten für eine erste Entlastung gesorgt hat, aber auch mit einer Vielzahl von Unsicherheiten unter den Mitarbeitenden einhergeht. Es wird deutlich, dass sich zum Zeitpunkt der Erhebung ein Teil der Pflegebediensteten aufgrund fehlender und widersprüchlicher Informationen kritisch gegenüber einer Impfung zeigen. 

5. Schlechterer Gesundheitszustand der Leitungskräfte und geringerer Präsentismus: Das Wohlbefinden der befragten Leitungskräfte hat sich den Einschätzungen zufolge im Zuge der Pandemie weiterhin verschlechtert. Verringert hat sich im Verlauf der Pandemie hingegen das Präsentismusgeschehen – während in der ersten Welle 18 % angaben, nie krank zur Arbeit zu gehen, waren es in der zweiten Welle 45 %.

6. Fachkräftemangel stell weiterhin ein zentrales Problem dar und hat im Zuge der Pandemie an Relevanz gewonnen: Die Ergebnisse verdeutlichen, dass der bereits vor und zu Beginn der Pandemie in Deutschland vorherrschende Fachkräftemängel im Laufe der Pandemie an Relevanz gewonnen hat. Wie aus den Angaben der Befragten deutlich wird, ist der deutsche Arbeitsmarkt bereits seit geraumer Zeit „leergefegt“, was zu einer weiteren Arbeitsverdichtung und Mehrbelastung der Pflegebediensteten und Leitungskräfte geführt hat.

7. Das Robert-Koch-Institut als zentrale Informationsquelle: Neben dem Gesundheitsamt und Berufsverbänden stellt das Robert-Koch-Institut laut der befragten Leitungskräfte die zentrale Informationsquelle zur Bewältigung der Pandemie dar. Ebenso zeichnet sich ein positives Bild hinsichtlich des Grads der Informiertheit und den Umgang mit Informationen zum Pandemiegeschehen ab. 

8. Organisationale Coping-Kapazität wird weiterhin hoch eingeschätzt (Bewältigungsoptimismus): Trotz der vielschichtigen Auswirkungen der Pandemie glauben weiterhin ein Großteil der Befragten, die damit verbundenen Herausforderungen und Belastungen bewältigen zu können. Dies lässt deutet darauf hin, dass Pflegeeinrichtungen im Notstand erprobt und dadurch widerstandfähig sind.

9. Sozialer Zusammenhalt und Handlungsmächtigkeit als Schlüsselfaktor für die Krisenbewältigung: Die Befragungsergebnisse verdeutlichen, dass der soziale Zusammenhalt und die kollektive Handlungskapazität eine der stärksten Ressourcen zur Bewältigung der pandemischen Situation sind. In Anbetracht generell knapper finanzieller, materieller und personeller Ressourcen, erschienen soziales Miteinander, emotionale Unterstützung und gegenseitiger Verlass weiterhin an Bedeutung zu gewinnen.

PD. Dr. Timo-Kolja Pförtner, Dr. Kira Isabel Hower, Univ. Prof. Dr. Holger Pfaff unter Beteiligung der AG Pflege, Gesundheit, Altern des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19

Kontakt:

PD. Dr. Timo-Kolja Pförtner

IMVR – Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln (KöR)
Eupener Straße 129, 50933 Köln
E-Mail: timo-kolja.pfoertner@uk-koeln.de
http://www.imvr.de