Obwohl die Bedeutung des Hippokratischen Eids für die medizinische Ausbildung und Praxis im 21. Jahrhundert abgenommen hat, wurde er lange Zeit als historischer Eckpfeiler der medizinischen Ethik angesehen. Wer aber hätte gedacht, dass der Eid des Hippokrates die Ärzteschaft auch zu musikalischen Auftragswerken inspiriert hat? Prof. Dr. Axel Karenberg, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, und sein Doktorand Zeno Schmid haben in einem kürzlich publizierten JAMA-Aufsatz in der Rubrik „The Arts and Medicine“ zwei wenig bekannte Vertonungen des Eids vorgestellt, die von medizinischen Einrichtungen für ein ärztliches Publikum in Auftrag gegeben wurden und beide unabhängig voneinander Anfang der 1980er Jahre entstanden sind.
Das erste Werk, der „Serment-Orkos“ für gemischten Chor von Iannis Xenakis (1922-2001), wurde am 6. September 1981 vom Chor des Dritten Griechischen Radioprogramms uraufgeführt. Veranstaltungsort war das antike Odeon-Theater des Herodes Atticus in Athen bei der Eröffnungsfeier des 15. Weltkongresses der Internationalen Gesellschaft für Herz- und Gefäßchirurgie. Xenakis gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Nachkriegsavantgarde auf dem Gebiet der klassischen Musik. Als Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg hatte er ein schweres Gesichtstrauma erlitten; die Folge waren Entstellungen, der Verlust des linken Auges, Tinnitus und einseitige Taubheit. In seiner 7-minütigen Komposition verwendet Xenakis drei altgriechische Textfragmente aus dem Eid des Hippokrates und thematisiert seine persönliche Auseinandersetzung mit den Themen Leid, Tod und Heilung.
Die zweite Eideskomposition, „Der Eid des Hippokrates für Klavier zu 3 Händen“, stammt vom deutsch-argentinischen Komponisten Mauricio Kagel (1931-2008), ehemaliger Professor für Neues Musiktheater an der Kölner Musikhochschule. Er reichte die Partitur als Auftragswerk beim Deutschen Ärzteblatt ein, das sie 1984 mit einer begleitenden musikwissenschaftlichen Diskussion abdruckte. Das Stück wurde 1984 auf der 13. Biennale Pro Musica Nova in Bremen uraufgeführt. Im letzten Takt legen die Pianisten nach Kagels Anweisung dicht über der Klaviatur die Hände übereinander und agieren, als würden sie den Eid ablegen. Auch Kagel verarbeitete eigene Leidensaspekte: Infolge einer starken Kurzsichtigkeit litt er unter einer Netzhautablösung, die operativ behandelt werden musste. Kagels ursprüngliche und unveröffentlichte Konzeption des Werkes „für 3 linke Hände“ drückt vermutlich dessen Enttäuschung über die empfundene Ungeschicklichkeit seiner drei behandelnden Augenärzte aus: Indem er die Leser des Deutschen Ärzteblatts das Stück mit den linken (und nicht mit den rechten) Händen spielen lässt, untergräbt er durch die Aufführung von dessen Komposition symbolisch die Eidesformel.
Die Werke von Xenakis und Kagel scheinen die einzigen veröffentlichten und öffentlich aufgeführten modernen klassischen Musikkompositionen des Hippokratischen Eids zu sein, die von medizinischen Institutionen für ein ärztliches Publikum in Auftrag gegeben wurden.
Online veröffentlicht: March 4, 2022. doi:10.1001/jama.2021.21019. https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2789918
Inhaltlicher Kontakt:
Prof. Dr. Axel Karenberg
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Uniklinik Köln, Medizinische Fakultät der Universität zu Köln, Joseph-Stelzmann-Str. 20
50931 Köln, Deutschland
ajg02uni-koeln.de
Kommunikation:
Stephanie Wolff, M.A.
Referentin für Kommunikation & Öffentlichkeitsarbeit
Medizinisches Dekanat
Stephanie.wolff@uk-koeln.de