S10 "Kultur und Krankheit"
Medizin und ethnisch-kulturelle Vielfalt
Im Rahmen des Moduls S10 werden sowohl mittels praxisnaher „paper cases“ als auch der Methode des „Problem- orientierten- Lernens“ in Kleingruppenarbeit die interagierenden Begriffe von Kultur, Gesundheit und Krankheit und ihre Bedeutung für die zukünftige angewandte Medizin aufgegriffen.
Da auf Grundlage eines hinreichend „weiten“ Kulturbegriffs auch medizinische Institutionen selbst als kulturelle Handlungsfelder aufgefasst werden müssen (FRIESE (2004), wird im Seminarprozess die „Medizin“ reflexiv als ein integraler Teil eines kulturellen und sozialen Systems analysiert (HELLMANN 2000).
Es wird gemeinsam thematisiert, dass der Begriff Medizin, neben konkreten Strukturen und materiellen Ressourcen bzgl. Krankheitsbehandlung und Gesundheitserhaltung in einer bestimmten Kultur, auch Wissen, Erfahrung, Einstellungen, Wahrnehmungen und Überzeugungen umfasst, wobei diese wiederum zu kulturspezifischen Ausprägungen, etwa bei Behandlung und Vorsorge, führen (ZAUMSEIL 2007).
Die heute in der „modernen“ Medizin geltende naturwissenschaftlich- biologische Auffassung, dass Krankheit ein objektives Faktum sei, welches unbeschadet kultureller, sozialer und individueller Determinanten Allgemeingültigkeit besitzt und auch ablösbar vom Betroffenen diskutiert werden kann, legt nahe, dass das Wirken der Krankheit an allen Betroffenen gleich oder sehr ähnlich sein muss und dementsprechend auch das Befinden und das Erleben und Empfinden der Krankheit identisch ist. Da diagnostische Methoden gegenwärtig auf dem „kartesianischen Paradigma“ beruhen (GREIFELD 2003), werden Symptome zumeist allein als Ausdruck einer wissenschaftlich nachprüfbaren Realität gesehen. In dieser primären Ausrichtung auf die Krankheit (disease) wird aber der Kranke und sein subjektives Empfinden und Erleben der Krankheit- sein Kranksein (illness)- weitgehend aus dem Heilungsprozess ausgegrenzt (LUX (2003).
Diese Herangehensweise kann allerdings in der klinischen Praxis, vor allem in der „sprechenden Medizin“ (BEAUCHAMP et al. (2001), zu Missverständnissen in der Interaktion mit Patienten mit einem anderen sozio- kulturellen Hintergrund führen.
Nicht nur die Auffassung von der Kausalität der Krankheit und ihrer Wirkweise, von ihrer entsprechenden Diagnostik und Therapie, sind kultur- und schichtenspezifisch, sondern ebenso auch das Erleben, Erleiden und die Formen der Äußerung der Krankheit. Alle diese Verstehens- und Verhaltensweisen sind im spezifischen Sozialisations- und Enkulturalisierungsprozess des Individuums in seiner Herkunftsgesellschaft aus der mitmenschlichen Erfahrung gelernt, normativ verankert und mehr oder minder stark internalisiert (ZIMMERMANN 2000).
Im Kranksein werden sie dann Grundlage des Erlebens sowie des Verhaltens und dementsprechend zum Ausdruck gebracht. Selbst bestimmte Erleidens- und Erlebensformen, die als „objektiv“ gelten, weil sie neuropsychologisch Umgangsform erklärbar sind - wie Schmerz-, sind keineswegs unabhängig von der erlernten und internalisierten Umgangsform mit diesem Reiz. Inwieweit der Schmerz in das Bewusstsein treten kann, zugelassen, eingeordnet und bewertet wird, gelebt oder durch autosuggestive Methoden ausgeschaltet wird, ist grundsätzlich verschieden von Kultur zu Kultur, von Gesellschaft zu Gesellschaft und innerhalb der Gesellschaft zwischen Stadt und Land sowie selbst jeweils von Schicht zu Schicht, und dabei noch geschlechts- und altersdifferenziert (ZIMMERMANN 2000/ KNIPPER&BILGIN 2010).
Im Mittelpunkt des interdisziplinären Nachmittagsmoduls „Kultur und Krankheit“ stehen somit u.a. die praxisnahen Begriffe Gesundheit, Krankheit, Kultur und das, was darunter verstanden werden kann. Das Lernziel dieses Moduls besteht in der selbstreflexiven Wahrnehmung, dass diese Begriffe eng mit der vorherrschenden Medizintradition und den entsprechenden Gesundheits- und Krankheitsmodellen verbunden sind. Anhand der gemeinsam erarbeiteten Erfassung des „paper cases“ durch das SOAP-Prinzip (DAHMER 1998 /SCHNABEL 2009) sowie fundierter wissenschaftlicher Studien zur interkulturellen Kommunikation und Kompetenz gilt es zu belegen, dass Krankheit in der Arzt-Patient- Interaktion immer als ein semantisches Netzwerk verstanden werden muss (LUX 1999).
Weiterführende Literatur
Beauchamp, TL./ Childress, JF. (2001) Principles of Biomedical Ethics. 5th ed. (Hrsg).
Oxford University Press. New York.
Dahmer, J. (1998) Anamnese und Befund- Die ärztliche Untersuchung als Grundlage klinischer Untersuchungen. Stuttgart.
Fiese, H. (2004): Cultural Studies - Forschungsfelder und Begriffe. In: Jaeger F. / Liebsch, B./ Rüsen, J. / Straub, J. (Hrsg.) Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart. 467-485.
Helmann, C. G. (2002) Culture, Health and Ilness. 4th Ed. Oxford. London.
Greifeld, K. (Hrsg.) (2003) Ritual und Heilung: Eine Einführung in die Medizinethnologie. Berlin.
Knecht, M. (2008) Jenseits von Kultur: Sozialanthropologische Perspektiven auf Diversität, Handlungsfähigkeit und Ethik im Umgang mit Patientenverfügungen. Ethik in der Medizin 20(3): 169–80.
Knipper, M/ Bilgin, Y. (2010) Medizin und ethnisch- kulturelle Vielfalt. Migration und andere Hintergründe. In: Deutsches Ärzteblatt 107 (3): 76-79.
Lux, Thomas (Hg.) (2003) Kulturelle Dimensionen von Medizin. Ethnomedizin - Medizinethnologie - Medical Anthropology. Berlin.
Lux, T, (1999) Krankheit als semantisches Netzwerk. Ein Modell zur Analyse der Kulturabhängigkeit von Krankheit. Berlin.
Schenk, L./ Neuhauser, H. (2005) Methodische Standards für eine migrantensensible Forschung in der Epidemiologie. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 48(3): 279–86.
Schnabel K. et. al. (Hrsg.) (2009) Ärztliche Fertigkeiten. Für die Kitteltasche: Anamnese, Untersuchung, ausgewählte Anwendungsgebiete. Stuttgart.
Zaumseil, M. (2007) Qualitative Sozialforschung in klinischer Kulturpsychologie. Psychotherapie & Sozialwissenschaft . In: Zeitschrift für qualitative Forschung und klinische Praxis 9 (2): 99-116.
Zimmermann, E. (2000): Kulturelle Missverständnisse in der Medizin: Ausländische Patienten besser versorgen. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle.